Sexualität

Olivier wandte sich von allem ab: von der Ehefrau, dem Sohn, der allzu geliebten Schwester, getrieben von einer dunklen, nie begangenen Schuld. Hinter sich hat er eine Familie und eine Sprache gelassen, hat im Exil, in Paris, gelebt. Doch eines Tages erhält
Laura einen Brief von ihrem Bruder: Er will seinen Sohn Michele wiedersehen. Der ausgewählte Ort ist ein Ort in der Mitte, Genf, windig und fremd. Hier wird nach einer Antwort, nach Erlösung gesucht. Zwischen schwankenden Identitäten, verschiedenen Heimaten und uneingestandenen Ängsten versu- chen die Figuren von Pierre Lepori verzweifelt, sich wiederzufinden und – einmal mehr – davon abzulas- sen, sich zu verletzen und zu flüchten.

Den Ungewissheiten seiner Figuren folgend, erscheint dieser Roman, als absolutes Novum, gleichzeitig in drei verschiedenen Verlagen, die italienische Ausgabe bei Edizioni Casagrande, die französische bei Editions d‘en bas und die deutsche, die auf der italienischen und französischen Fassung basiert, beim verlag die brotsuppe.
Die Übersetzerin Jacqueline Aerne arbeitet als frei schaffende Übersetzerin, kommt aus dem Tessin und lebt in Basel.

Sexualität, Biel, Verlag die Brotsuppe, 2011.

Versione italiana: Sessualità, Bellinzona, Casagrande, 2011.
Version française : Sexualité, Lausanne, Éditions d’en bas, 2011.

Revue de presse
Entretiens (Radio/TV)


Jacqueline Aerne über ihre Übersetzung
von Beat Mazenauer

Viceversa Literatur, 15.9.2011

Pierre Leporis Roman liegt in den drei Sprachen Französisch, Italienisch und Deutsch vor. Die deutsche Version überrascht dabei schon im Untertitel. Wörtlich heisst es da: „aus der italienischen und französischen Fassung übersetzt von Jacqueline Aerne“. Was besagt diese doch eher ungewöhnliche Formulierung?
Diese besondere Formulierung wurde in Absprache mit der Verlegerin, Ursi Anna Aeschbacher, und dem Autor gewählt, weil die Übersetzung tatsächlich aus zwei Sprachen erfolgte. Pierre Lepori hatte mir eine erste Fassung des Romans letzten Sommer als Typoskript überreicht, als das Ganze noch in einer Projektphase stand. Als mich der Verlag Brotsuppe im Dezember mit der Übersetzung betraute, hatte Pierre seinen ursprünglich in italienischer Sprache verfassten Roman bereits selbst ins Französische übersetzt, so dass mir quasi zwei Originale vorlagen. Dies irritierte mich zunächst, da die sich beiden Fassungen teilweise doch deutlich unterschieden. Pierre verstand seine französische Version primär als eine « riscrittura/re-écriture », so dass er die Bedingungen der anderen Sprache zuerst selbst erprobte und die französische Version als eigenständiges Werk betrachtete. Bei der Übertragung ins Deutsche liess der Autor mir freie Hand bei der konkreten Wahl aus beiden Fassungen. Damit kompromittierte er zwar meinen Anspruch auf originalgetreue Übertragung, doch bald erkannte ich die unerhörten Vorteile eines solchen Vorgehens. Beim Übersetzen ist eine der grössten Schwierigkeiten bekanntlich die korrekte Interpretation des Originals. Bei mehreren Bedeutungsmöglichkeiten muss man sich für eine entscheiden. Übersetzt der Autor aber gleich wie hier selbst sein Werk in eine andere Sprache, so gibt er damit wertvolle Hinweise für die Übersetzung in eine weitere. Pierre liess mir zudem jegliche Freiheit, so dass ich gewisse Ausdrücke im Deutschen ganz anders formulieren konnte, vor allem wo der Klang des eigentlichen deutschen Ausdrucks nicht zum Inhalt passte. Der Wortklang war aber von Pierre bewusst eingesetzt worden. Zum Schluss konnte ich die gesamte Übersetzung mit Pierre überarbeiten, wobei er gar vorschlug, allein aus lautlichen Gründen den Namen einer Protagonistin in der deutschen Fassung zu ändern. Die gleichzeitige Übersetzung aus zwei Sprachen erwies sich rückblickend gar als ideale Bedingung.

Mögen Sie im Grunde aber das präzise Übersetzen lieber? Die Suche nach einem Adäquatum in der eigenen Sprache?
Was Präzision hier bedeutet, ist schwer zu definieren, denn beim Übersetzen müssen viele Kriterien gleichzeitig berücksichtigt werden. Gerade deshalb erhält Präzision immer neue Gesichter. Jeder Text stellt andere Bedingungen: Meines Erachtens gibt es keine allgemeingültige Methode, die man über jeden Text stülpen kann, sondern der Text selbst gibt die Methode vor. Innerhalb dieser immer veränderten Voraussetzungen versuche ich, den Text so genau wie möglich zu erfassen, ihn mit grösster Aufmerksamkeit zu lesen und dann wiederzugeben, sowohl in den sprachlichen Details als im Gesamtduktus. Präzision wäre somit eine Form der Aufmerksamkeit.

Sprachen haben bekanntlich ihre Eigenheiten. Worauf haben Sie besonders zu achten, wenn Sie aus dem Französischen resp. Italienischen übersetzen?
Italienisch und Französisch sind sich sowohl lexikalisch als auch syntaktisch sehr ähnlich, weshalb ich oft Übersetzter beneide, die von einer dieser Sprachen in die andere übertragen. Die grossen Schwierigkeiten bei der Übersetzung aus romanischen Sprachen ins Deutsche liegen in der ganz unterschiedlichen Syntax und Phonetik. Während etwa Appositionen in den beiden romanischen Sprachen elegant in fast beliebiger Anzahl nach dem Verb aufgereiht werden können, müssen sie im Deutschen vor das Prädikat hinein gepresst werden, was den Satz schwerfällig und unverständlich macht. Um dies zu vermeiden, muss man etwa mit Koordinationen oder Wiederholungen synonymer Verben arbeiten. Überhaupt ist die Morphologie der deutschen Verben ganz anders als die der romanischen Sprachen: man denke nur an die Trennung zusammengesetzter deutscher Verben im Satzgefüge oder an die vielen zusammengesetzten Zeiten, was zu einer Art « Omnipräsenz » der Verben in einem deutschen Text führt. Will man aus stilistischen Gründen ein Prädikat am Ende des Satzes vermeiden, geht dies nur mit grosser Anstrengung. Dagegen unterscheiden sich Italienisch und Französisch für mich vor allem darin, dass im Französischen, unabhängig vom sprachlichen Register, sich häufiger idiomatische Wendungen finden, so auch in Pierres eigener Übertragung.

Wie gehen Sie dabei mit der spezifischen Lautung um: den „e“-Vokalen im Französischen, den gehäuften „o“-Lauten im Italienischen? Ist sie von Bedeutung beim Übertragen?
Die Häufigkeit der Vokale « e » im Französischen oder des « o » im Italienischen bereitet mir nicht allzu grosse Mühe, denn sie sind sich auf phonetischer Ebene relativ ähnlich. Viel schwieriger wird es z.B. bei einer Häufung der Vokale « a » in einem italienischen Text: Die Offenheit und die Ruhe dieser Vokale ist sehr schwer wiederzugeben. Ganz allgemein hat die französische Sprache eine sehr geringe lautliche Bandbreite – man denke an die vielen Nasalen – während Italienisch zu den messbar akustisch breitesten Sprachen gehört, was gewöhnlich als « musikalisch » definiert wird.

Entstehen jeweils andere Texte, je nach der Quellsprache, aus der Sie übersetzen?
Das ist schwer zu beantworten. Ich denke, dass weniger die Quellsprache, als vielmehr die Zielsprache bestimmend und massgeblich ist. Sie ist es, an deren Regeln und Bedingungen wir uns anpassen müssen. Sich von der Quellsprache, dem Ausgangstext, zu lösen, ist das eigentliche Ziel einer Übertragung. Anderseits verbirgt jedes Wort semantische Latenzen, die erst dank einer Übersetzung ans Licht kommen und bewirken können, dass sich die Bedeutung des Textes in der Zielsprache verschiebt.

Erika spricht in der dreisprachigen Version Deutsch – im Original. Haben Sie versucht, dies auch in der Übersetzung anklingen zu lassen – also die Differenz zwischen Erika und den anderen beiden Figuren?
Ja, ich habe versucht, die sprachlichen Eigenheiten der Figuren so gut es ging anklingen zu lassen, wobei es gerade bei Erika natürlich wenig Mittel gab, ihr Deutsch in einem deutschen Text durchschimmern zu lassen. Ich habe es dennoch versucht, vor allem auf lexikalischer Ebene etwa an Stellen, wo sich im Original ein Wort fand, das eine Person deutscher Kultur kaum gebrauchen würde. Auf Seite 28 habe ich beispielsweise statt des Adjektivs « melodramatisch » das Wort « Trara » gewählt, das zwar etwas anderes bedeutet, jedoch besser die Sprache und Kultur einer Deutschen widerspiegelt.

Signalisiert das Verb „encouragieren“ in Oliviers Rede (S. 93) diese sprachliche Diskrepanz (wo „ermutigen“ ja denselben Sachverhalt wiedergeben könnte)?
Bei der Figur von Olivier war diese Operation viel einfacher, ich musste eigentlich nur ein paar Gallizismen verwenden, wie eben das Verb « encouragieren » anstelle von « ermutigen ». Die Wahl, die Sprache der Figuren durchschimmern zu lassen, war allerdings bereits in der italienischen Version angelegt, in der mit Absicht etliche Gallizismen vorkommen, allerdings nicht nur auf lexikalischer, sondern auch auf idiomatischer Ebene.